Von dort zog sich Jesus in das Gebiet von Tyrus und Sidon zurück. Da kam eine kanaanäische Frau aus jener Gegend zu ihm und rief: Hab Erbarmen mit mir, Herr, du Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem Dämon gequält. Jesus aber gab ihr keine Antwort. Da traten seine Jünger zu ihm und baten: Befrei sie (von ihrer Sorge), denn sie schreit hinter uns her. Er antwortete: Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Doch die Frau kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir! Er erwiderte: Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen. Da entgegnete sie: Ja, du hast recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Darauf antwortete ihr Jesus: Frau, dein Glaube ist groß. Was du willst, soll geschehen. Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt.
von Pfarrerin Sandra Zeidler
Und sie verfolgt die These: Dein Bild von der Welt verändert die Welt. Ich lese aus dem Matthäusevangelium:
„Jesus verließ Gennesaret und zog sich in das Gebiet von Tyrus und Sidon zurück. Und sieh doch: Eine kanaanitische Frau aus dieser Gegend kam zu ihm. Sie schrie: „Hab Erbarmen mit mir, Herr, Du Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem bösen Dämon beherrscht!“
Jesus hat genug. Enough is enough! Gerade hat er sich mit den Pharisäern rumgestritten, hat Menschen gesund gemacht, hat Petrus vom Ertrinken gerettet undundund! Es reicht, Jesus hat genug, es steht ihm hier. Er hat keinen Bock mehr, auf Fragen zu antworten, die anfangen mit „Darf man das?!“, keinen Bock mehr, hilfsbereit zu sein, keinen Bock mehr, angesprochen zu werden, bloß weil er Jesus heißt. Da wo er jetzt hingeht, das war das zu seiner Zeit das Ausland, auf jeden Fall also weit weg von all dem, was ihn grade nervt. Einfach Ruhe und Frieden, ein bisschen zu sich kommen, nachdenken oder auch nichts denken. Die Welt und ihr Geschrei wegschieben.
Wenn ich keinen Bock mehr hab, auf irgendwas zu reagieren, dann ist mein „Ausland“ der Englischen Garten. Die Welt ein bisschen wegschieben, grüne Wiesen, tolle Bäumen, springende Hunde. Schön! Die Welt und ihr Geschrei wegschieben. Aber bis ich dort bin, muss ich die Schellingstraße entlanglaufen und da schreit mir die Welt entgegen, so wie die Frau Jesus entgegen geschrien hat. Der Bettler im dreckigen Anzug, der mir seinen abgegriffelten Pappbecher entgegenstreckt. Solch ich was geben? Nein, ich mag net, lass mich in Ruhe, überhaupt, das sind bestimmt rumänische Banden, alles organisiert!
Ich beschleunige meinen Schritt. An der Ecke schreit mir die Boulevardzeitung entgegen: Schwulenparade in München! Mir grinst eine DragQueen auf meterhohen High Heels entgegen, die kokett mit ihrer Federboa in die Kamera wedelt. Hallo – es gibt auch Schwule in Jeans und T-Shirt und: HALLO – es gibt auch Lesben! Soll ich‘s buchstabieren?!
Ich will meinen Ruhe haben, ich will ins Ausland, ich will in den Englischen Garten, ich will unter die Bettdecke, ich will nix hören, nix sehen, nix sagen! Aber es nützt nichts: die Welt hört nicht auf, mir entgegen zu schreien. Und sie schreit ja oft wirklich so, dass mir das Herz blutet.
Vielleicht kennt ihr das Bild, auf dem ein Mann zusammengekauert am Boden liegt, zwei treten auf ihn ein, einer springt gerade von oben mit voller Wucht auf den am Boden drauf. Der am Boden liegt, das ist der Organisator des Pride-Umzuges in Kiew. Sich in der Ukraine zu outen, kann dein Leben kosten. Letztes Jahr mussten die Teilnehmer des CSD-Umzuges in Sofia, in Bulgarien, von Polizei geschützt werden. Auf dem Heimweg sind sie dann angegriffen und verprügelt worden. Die erste Parade dort 2008 wurde von Skins mit Molotowcocktails beworfen. Was haben diese Schläger für ein trauriges Bild ihrer kleinen Welt?
Von welchem bösen Dämon wird die Welt beherrscht? Warum sind Menschen so voll Hass? Wessen Herz erreicht das Schreien? Wer hat Erbarmen? Wer heilt die Welt?
„Aber Jesus gab ihr keine Antwort. Da kamen seine Jünger zu ihm und baten ihn: Schick sie weg! Denn sie schreit hinter uns her! Aber Jesus antwortete ihnen: Ich bin nur zu Israel gesandt, dieser Herde von verlorenen Schafen. Aber die Frau warf sich vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir doch!“
Die Welt schweigt. Die Welt ist eine Mauer. Ich bin eine Mauer.
Wir reden viel über die Situation unserer Schwestern und Brüder in Osteuropa, wir beschwören in unseren CSD die weltweite Solidarität, können aber angeblich nichts machen.
Und wie schaut’s vor der eigenen Haustür aus? Wie viel reden wir denn miteinander? Schwule mit Lesben, Lesben mit Trans-Männern, Trans-Männer mit Bi-Frauen? Da herrscht Schweigen, behaupte ich. Jede und jeder wurschtelt so in seinem eigenen Kreisen rum, ist beschäftigt mit der eigenen kleinen Welt, mit der eigenen kleinen Regenbogenfamilie (Kind oder Hund ), mit der Partnerschaft, mit dem Nestbau. Ich weiß z.B. wenig bis gar nix über Trans-Menschen. Ich hab einen Bekannten, einen Trans-Mann, den sehe ich nur alle Schaltjahre, der ist sehr offen und ich habe schon das Gefühl, ich könnte ihn mehr fragen. Aber ich traue mich nicht richtig. Irgend so eine Scham, Verklemmtheit ist da und vielleicht bin ich dann auch eine Mauer für ihn, trotz aller Unkompliziertheit. Anstatt zu fragen, bleibe ich in meinen Vorurteilen stecken. Ich erinnere mich noch an Zeiten, da wurde in Lesbenkreisen heftig diskutiert, ob jetzt Trans-Frauen in die Frauendisco dürfen, weil eigentlich sind das ja doch schon noch irgendwie Männer. Und erst die Bi-Frauen, die sollen gleich zu Hause bleiben, für ein Abenteuer sind wir echten Lesben uns zu schade – pah! Ich weiß nicht, wie die aktuelle Diskussion ist und ich weiß nicht, wie es bei den Schwulen ist, aber ich behaupte jetzt mal, wir halten uns schon einiges vom Leib, wie die Jünger ja vor allem sich selbst die schreiende Frau vom Leib halten wollen, wenn sie Jesus bitten, sie wegzuschicken. Sie sagen ja: „Jesus, du bist doch der Anführer, du bist doch zuständig, und überhaupt: wir können gar nicht heilen!“ So halten wir uns vom Leib, mal echt miteinander zu reden, mal zu fragen und dann vielleicht etwas zu erfahren, was die Vorurteile wegnehmen könnte. Mal ein bisschen mehr voneinander zu kapieren und vielleicht sogar ein Gespräch zu führen, dass heilend wirkt, das die Verletzungen beim Namen nennt und nicht wieder aufreißen lässt. Stattdessen Nabelschau: „Ich bin nur für die eigenen Schäfchen da; sorry!“ Will sagen: Ich muss mich jetzt mal um mein eigenes Zeugs kümmern, ich muss jetzt erst mal mit dem Hund in den Englischen Garten …
Wer in einer Scheiß-Position ist, muss sich erst richtig in den Staub werfen, um dann nochmal eins drauf zu kriegen. Wer als Trans-Frau rumläuft, wird mindestens blöd angeglotzt. Wer anders ist, wer trauert, wer krank ist, der muss sich in unserer Gesellschaft immer und immer wieder Gehör verschaffen, schreien, gegen die Mauer anschreien, aber die Mauer schweigt, bis derjenige sich auf den Boden wirft. Und dann kriegt er folgendes zu hören:
„Aber Jesus antwortete: Es ist nicht richtig, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen.“
BAM! Das hat gesessen. Was für ein grausames Bild von der Welt; was für ein realistisches Bild von der Welt: Es gibt die, die am Tisch sitzen, das sind die Herren der Welt, die nur ihres gleichen etwas abgeben vom Kuchen, vom Reichtum, vom Wissen, von den Möglichkeiten. Und dann gibt’s die underdogs, die unterm Tisch leben. Oben bleibt oben, unten bleibt unten. Die Mächtigen sitzen an ihrem Tisch und kaddeln aus, wie sie die Welt wollen. Was soll ich Würstel da machen?
„Die Frau entgegnete: Ja, Herr! Aber die Hunde fressen doch von den Krümeln, die vom Tisch ihrer Herrn herunterfallen.“
Das ist jetzt wie beim Theater: Der Vorhang öffnet sich und das gesamte Bild wird sichtbar. Und wir stellen fest: das Bild ist größer, als wir dachten. Die kluge Frau öffnet dem engstirnigen Herrn Jesus die Augen: Herr und Hund gehören zusammen. Die underdogs leben von dem, was ihnen zuteil wird. Dabei bleibt die Frau durchaus auch realistisch, sie stürzt den Tisch der Herren nicht gleich um, sie ist keine Revoluzzerin. Sie hat einfach einen weiten und weitherzigen Blick auf die Welt. Sie hat gesehen, dass die am Tisch sitzen, durchaus etwas zu geben haben.
Ich finde das ein rührendes Bild, wahr und warm, weil es so mitmenshclich gedacht ist.
Mit welchem Bild von der Welt laufen wir rum, frage ich euch? „Hauptsache mein Sofa ist bequem!“ „Die andern sind die Anführer, sollen die doch übernehmen!“ „Ich stell lieber keine Fragen, dann krieg ich keine unbequemen Antworten.“
Wie wäre es mit einer Bildweitung, denn Achtung! hier kommt meine These vom Anfang: Dein Bild von der Welt verändert die Welt!
In Brasilien gibt es eine Vereinigung von Müttern mit schwulen und lesbischen Kindern, die Equality Moms. Sie kämpfen für gleiche Rechte, für Menschenrechte für ihre Kinder. Einige haben Söhne verloren, die von Schwulenhassern ermordet wurden. Diese Mütter haben im Mai mitten in Rio einen riesigen Baum gestaltet, an dem als Blattgrün Fotos hingen von Schwulen und Lesben und deren Geschichten. Was für ein Bild!
Die Internet-Community hat mit ihrer Petition von 130.000 Unterschriften dazu beigetragen, dass in Kiew das Gesetz 8711 gekippt wurde, nachdem man „keine Werbung“ für Homosexualität machen darf. Vorerst zwar gekippt, aber immerhin.
Beim Gay Pride in Split, in Kroatien haben in diesem Jahr sechs Mitglieder der sozialdemokratischen Regierung teilgenommen, darunter die Außenministerin. Sie haben ein Bild in sich von einer freien und demokratischen Welt und helfen – indem sie die Flagge zeigen (Regenbogenflagge!) – die Welt zu verändern.
Das Ende der Bibelstunde naht, liebe CSD-Gemeinde. Und ich finde, dass auch Jesus sein engstirniges Weltbild verändert hat. Wenn schon der lernfähig war, wie viel mehr dann wir! Ich glaube wirklich, was wir für ein Bild von der Welt haben, hilft, die Welt zu verändern. Wenn wir dran glauben.
„Darauf antwortete ihr Jesus: Frau, dein Glaube ist groß! Was du willst, soll geschehen! In demselben Augenblick wurde DIE WELT gesund.“
Amen