Da kamen seine Mutter und seine Brüder; sie blieben vor dem Haus stehen und ließen ihn herausrufen. Es saßen viele Leute um ihn herum und man sagte zu ihm: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und fragen nach dir. Er erwiderte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.
von Bischof Dr. Matthias Ring
aber je mehr ich mich mit der Predigt beschäftigt habe, umso mehr wuchs die Sorge, dass das eine ziemlich langweilige Angelegenheit werden könnte. Also für Sie, die Hörerinnen und Hörer! Denn im Grundsätzlichen ist ja klar, was ich hier sagen werde. So müssen Sie nicht befürchten, dass ich mich hinstelle und sage: Homosexualität ist Sünde. Oder dass ich gegen die „Ehe für alle“ spreche. Wer so denkt, würde eine Einladung zu einem CSD-Gottesdienst gar nicht erst annehmen. Sie kommen mit bestimmten Erwartungen hierher, und Sie können sicher sein, dass diese auch weithin erfüllt werden.
Also irgendwie ist der Inhalt meiner Predigt vorhersehbar. Das meinte wohl auch das Vorbereitungsteam, weshalb ich schon Anfang Juni im Internet den Kerngedanken meiner damals noch gar nicht existierenden Predigt nachlesen konnte. Dort ist bei der Ankündigung dieses Gottesdienstes u.a. zu lesen: „Jesus selbst brachte der Menschheit ganz neue und andere Familienformen und scheute keine Konflikte deswegen. Die familiäre Weite Jesu wurde in der Geschichte oft totgeschwiegen. Von diesen neuen familiären Horizonten erfährst du in der Predigt und im ökumenischen Gottesdienst“.
Da sind die Erwartungen klar genannt: Von neuen familiären Horizonten soll ich Ihnen etwas erzählen, und zwar anhand der Evangelienstelle aus Markus 3. Ob ich diese Erwartungen erfüllen kann, können Sie in schätzungsweise neun Minuten selbst beurteilen. Die Episode aus Markus 3 dürfte allgemein bekannt sein, gerade weil ihr ein Hauch von Skandal anhaftet, der sich mit dem Bild der Heiligen Familie nicht verträgt. Aber was geschieht da genau?
Jesus grenzt sich von seiner Familie ab. Aber er tut es nicht, indem er Familie an sich ablehnt, sondern die Jüngerinnen und Jünger – und damit die spätere Gemeinde – zu seiner neuen Familie erklärt. Familie ist also irgendwie etwas Positives, sonst würde Jesus einen anderen oder neuen Begriff gebrauchen. Es wäre aber zu wenig, wenn man in Jesu Worten nur die Übertragung des Familienbegriffs auf die Jüngergemeinschaft sähe. Jesus findet offenbar in dieser Gemeinschaft etwas wieder, was wesentlich für Familie ist. So wie wir es ja auch machen, wenn wir zum Beispiel unseren Freundeskreis zur Ersatzfamilie erklären. Zugespitzt könnte man sagen: Die Familie wird zum Vorbild für die Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger.
Die entscheidende Frage lautet nun: In welchem Punkt ist die Familie, wie Jesus sie erlebt hat, Vorbild – und damit natürlich auch unser Vorbild? Ich würde diesen Punkt so formulieren: Familie als Gemeinschaft von Menschen, die verbindlich und verlässlich füreinander da sind und füreinander eintreten.
So sehr sich Familie im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat und so unterschiedlich die Familienmodelle auch heute in den unterschiedlichen Kulturen sind, ich meine, das ist überall zu finden. Man kann sich alternative Familienmodelle ausdenken so viel man will, instinktiv würde jeder und jede das mit zum Kern einer Familie zählen, wobei das natürlich auch für die Ehe gilt. Wegen dieses Kerns sind Ehe und Familie als Lebensideal und Lebensform nicht tot zu kriegen, egal wie schwierig es konkret ist, dieses Ideal zu leben. Ich kenne jedenfalls keinen Menschen, der sich nicht danach sehnt, Menschen zu haben, die verlässlich und verbindlich für ihn da sind.
Verbindlich füreinander eintreten und füreinander da sein – Jesus hat die Messlatte für die Gemeinschaft seiner Jüngerinnen und Jünger sehr hoch gelegt, indem er sie zu seiner Familie erklärte. Es scheint, als habe das in den Anfängen des Christentums sogar funktioniert, denn in der Antike haben die Christinnen und Christen vor allem dadurch Eindruck gemacht, dass da eine Gruppe von Menschen war, die nicht durch biologische Familienbande oder durch politische oder wirtschaftliche Interessen aneinander geknüpft und die dennoch füreinander da waren.
Aber die Messlatte liegt sogar noch höher, wenn wir bedenken, dass Jesus in einem Punkt dem Familienideal seiner Zeit nicht gefolgt ist. Er lässt nämlich etwas Entscheidendes weg, als er von seiner neuen Familie spricht. Er fragt zunächst: Wer ist meine Mutter, wer sind meine Brüder? Denn seine Mutter und seine Brüder stehen ja vor der Tür! Und er gibt dann selbst die Antwort, die schon die Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger im Blick hat, denn es werden die Schwestern ergänzt. Jesus sagt: Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter. Aber einer fehlt: Der Vater, der Patriarch!
Familie damals, das war die patriarchalisch strukturierte Großfamilie, in der immer ein Mann das Sagen hatte, der Vater oder der älteste Sohn. In Jesu neuer Familie ist die Alphaposition der Großfamilie unbesetzt! Das ist kein Versehen. Damit ist etwas ganz Wesentliches über das Ideal der christlichen Gemeinschaft gesagt. Sie ist eben nicht patriarchalisch strukturiert, sondern eine Gemeinschaft der Gleichberechtigten. Ein Umstand, der im Laufe der Kirchengeschichte sehr schnell wieder vergessen und erst in unserer Zeit wiederentdeckt wurde.
Grundsätzlich und speziell im Hinblick auf das heutige Evangelium meine ich: Jesus taugt weder als Kronzeuge für die bürgerliche Familie noch als Kronzeuge dagegen oder als Kronzeuge für alternative Lebensmodelle. Ich möchte behaupten, dass Jesus elementarer angesetzt hat. Ihm ging es darum, dass Menschen verbindlich füreinander eintreten und füreinander da sind; dass sie in einer Gemeinschaft leben, die ohne Patriarchen auskommt. Welche konkrete Gestalt das annehmen kann, darüber hat er nichts gesagt, nichts im Hinblick auf die Kirche, nichts im Hinblick auf Familie und Partnerschaft. Aber eines können wir festhalten: Es entspricht der Botschaft Jesu, dass Menschen füreinander da sind und füreinander eintreten.
Es ist eine relativ junge Entwicklung, dass dies auch Schwulen und Lesben zugestanden und zugetraut wird. Wobei man ehrlich eingestehen sollte, dass noch vor 25 Jahren Schwule und Lesben, die von Ehe und Familie träumten, innerhalb der Community Gefahr liefen, als Spießerinnen und Spießer abgetan zu werden.
Ich meine, der Staat tut gut daran, wenn er jene ermutigt, stützt und unterstützt, die verbindlich füreinander da sein wollen. Und ich meine, auch die Kirchen tun gut daran, es so zu halten. Der Staat tut es aus pragmatischen Gründen, weil eine Gesellschaft viele kleine Zellen von Menschen braucht, die füreinander da sind. Für die Kirchen ist es eine Frage des Evangeliums. Deshalb glaube ich, wenn Schwule und Lesben ihre Verbindung unter Gottes Segen stellen wollen, dann sollte ihnen dieser Segen nicht verwehrt werden.
Freilich, der Diskussionsstand in den einzelnen Kirchen ist dazu höchst unterschiedlich. Wir, in der Alt-Katholischen Kirche Deutschlands, tun uns noch relativ leicht, weil der Alt-Katholizismus an sich ein mitteleuropäisches Phänomen ist. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema hat ja viel mit den kulturellen Gegebenheiten zu tun. Aber auch wir stehen bei der Debatte, wie die Segnung einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft im Vergleich zu einer Ehe theologisch zu bewerten ist, noch ganz am Anfang. Meine eigene Meinungsbildung dazu ist übrigens auch noch nicht abgeschlossen. Dabei wird mir zweierlei immer deutlicher. Zum einen, wie sehr das Thema Ehe theologisch überfrachtet ist. Eine Überfrachtung, die mit der Wirklichkeit gelebter Ehe oft wenig zu tun hat. Und noch eins wird mir immer deutlicher, und damit möchte ich schließen.
Das Motte dieses Gottesdienstes lautet: „Familie – heilig anders“. Ob das, was Menschen leben, heilig ist, hängt nicht daran, ob Ihnen das ein Bischof oder eine Synode bestätigt und damit quasi einen Prüfstempel darunter setzt. Auch eine Segnung ist nicht dieser Prüfstempel. Heilig ist unsere Lebensform, heilig ist unser ganzes Leben dann, wenn wir es heiligen. Wenn wir das, was wir leben, im Angesicht Gottes, des Heiligen, leben. Und ich bin mir sicher, wenn Menschen so leben, egal ob hetero oder schwul oder lesbisch, dann bewirkt das etwas in der Welt. Aber seien Sie bitte nicht so dumm, Ihr Leben vom Prüfstempel einer Kirche abhängig zu machen.