von Präses Pfarrer Simon Froben, Ev.-ref. Kirche
Als Predigttext lese ich den Satz einer namenlosen Frau. Wir wissen von ihr nur, dass sie Ausländerin, Heidin ist. Und dass Jesus sie gerade beschimpft hat. Als „Hündin“ hat er sie bezeichnet. Abschaum. „Du bist nichts wert!“, „Lass mich in Ruhe. Hau ab“
Aus Markus 7, Vers 28 (vgl. auch Matthäus 15,28): „Sie aber antwortete und sprach zu Jesus: 'Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde unter dem Tisch von den Brosamen der Kinder.'“
Liebe Gemeinde!
Liebe Schwestern und Brüder!
Den habt Ihr Euch wirklich verdient! In all Eurer Vielfalt. Grenzenlos. Mein Gott – Respekt!
Als ich vor einigen Monaten gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könnte, beim ökumenischen CSD-Gottesdienst in München mitzumachen, war mein erster Gedanke: „Was wollt Ihr denn mit einer norddeutsch-oberfränkischen Hete wie mir?“ Aber gefreut habe ich mich – natürlich! Genauso wie ich mich Jahr für Jahr über die bunten Bilder und Berichte von CSDs in aller Welt freue, wirklich schon seit meiner Jugend. Ich gehöre glücklicherweise einer Generation an, für die diese Bilder von den stolzen und fröhlichen Paraden von klein auf selbstverständlich waren und sind. Und das ist gut so und wichtig. Die Vielfalt zu feiern – selbstbewusst und laut, manchmal schrill. Oder wie jetzt hier, etwas ruhiger, weniger medienwirksam; aber kein bisschen weniger fröhlich hoffentlich. Auch und gerade in der Kirche sollte das so sein, dass wir die bunte Vielfalt fröhlich und dankbar feiern anstatt sie zu verteufeln; dass wir uns als Menschen, die wir sind – Ebenbild Gottes, nicht weniger! – annehmen und selbst lieben, so wie wir sind in aller Vielfalt und das gemeinsam feiern. Aber eben das ist nicht immer und überall selbstverständlich. Es musste und muss – in der Kirche schwerer oft noch als in der Gesellschaft – erkämpft und erstritten werden. Mühsam, gegen Widerstände, das wisst Ihr alle besser als ich. Und so verdient es einfach Respekt, diese pride week vorzubereiten und durchzuführen und heute hier diesen Gottesdienst, in dem wir den Blick wie zum Gebet auch nach oben richten: „Mein Gott! Respekt!“
Manchmal muss man sich den Respekt auch von Gott und den Seinen erstreiten. Gut, Kirche, die Institution, lassen wir mal außen vor. Da menschelt es sowieso an allen Ecken und Enden. Aber Gott? War es nicht Jesus selbst, der auf die Fangfrage eines Schriftgelehrten – „Welches ist denn wohl das wichtigste Gebot überhaupt?“... (– und Jesus kann eigentlich nur verlieren, was immer er antwortet, es wird falsch sein: „Was, die anderen Gebote sind Dir nicht so wichtig?“ –) … war es also nicht Jesus selbst, der auf diese Fangfrage hin alle Gebote Gottes zusammenfasste in der einprägsamen Kurzform: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben … und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (vgl. Mt 22,34ff.) Besagt dieses sog. Doppelgebot der Liebe nicht, dass ich allen Menschen in all ihrer Vielfalt, grenzenlos mit Liebe, mit Respekt begegnen soll? Und ich kann sogar noch etwas anderes daraus hören: Wenn ich einen anderen nicht liebe, ihm nicht so wie er ist, zumindest mit Respekt begegne, dann mag der Grund auch darin liegen, dass ich mich selbst nicht so annehmen, so lieben kann, wie ich bin. Ich mag mein „Ich“ aufblasen wie ich will, aber mir fehlt dieses gewisse Grundvertrauen, dass ich so wie Gott mich (und eben auch andere) geschaffen hat, gut bin. Und so werde ich auch Gott, den Herrn und Schöpfer aller Dinge nicht wirklich lieb haben können „von ganzem Herzen, von ganzer Seele mit all meiner Kraft“. Das hat Jesus gesagt.
Und trotzdem kann es vorkommen, dass wir uns den Respekt selbst von Gott und den Seinen erstreiten müssen. Die Bibel ist ein wunderbares Buch auch darin, dass sie in all ihrer Heiligkeit die schattigen, widersprüchlichen und nur allzu lebensnahen, menschlichen, verstörenden und leidvollen Dinge offen und schonungslos mit erzählt. Auch von Jesus.
Eine Frau bittet ihn um Hilfe. Ihre Tochter ist krank. Von einem „unreinen Geist“, einem „Dämon“ besessen. So hat man es sich vorgestellt in früheren Zeiten: Unreinheit! Das ist das unterschwellig beherrschende Thema. Die Tochter hat einen unreinen Geist, die Frau selbst hat einen unreinen Glauben, sie ist Heidin. Daher betonen die Evangelisten extra, dass die Frau eine Ausländerin – Syrophönizerin“ Kanaanäerin – ist. Und das ist nun allerdings schon äußerst bemerkenswert, denn in der Gegend, in der sich das Ganze abspielt, zwischen Sidon und Tyrus, ist sie, die Frau, zu Hause, während Jesus, der Jude, hier der Fremde, der Ausländer ist. Bei aller Grenzenlosigkeit und Freiheit des Glaubens gilt ja selbst für Jesus: Alle Menschen sind Ausländer, fast überall. Indem die Erzähler über diese Binsenweisheit einfach hinweggehen, wird diese Geschichte allein schon dadurch wie sie erzählt ist, zu einem Beispiel dafür, wie Intoleranz, Ausgrenzung und Abwertung von Menschen funktionieren und wo sie ihre Wurzel haben: Es ist zuallererst und allein schon die fehlende Bereitschaft zum Perspektiv-Wechsel – mich einmal in die Situation des anderen hinzuversetzen –, geboren aus Vorurteilen und Bequemlichkeit, aus Angst und übersteigerter Selbstliebe: Wenn ich nur noch mich selbst sehe und liebhabe und meine Nächstenliebe sich darin erschöpft, die Menschen zu lieben, die denselben Glauben oder dieselbe Hautfarbe haben wie ich und die meinen 'way of life' bestätigen, wie kann ich dann Gott, den Schöpfer dieser Welt in ihrer grenzenlosen Vielfalt lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit meiner ganzen Kraft? Ich werde ihn – oder sie – im besten Falle einen lieben Gott – eine liebe Göttin – sein lassen und meinen Nächsten werde ich im besten Falle in Ruhe lassen. Und der Nächste und Gott mögen mich dann aber bitte auch in Ruhe lassen.
Auch Jesus wollte seine Ruhe haben, das wird ausdrücklich erwähnt. Und so lässt er sich nicht auf diese Frau ein. Obwohl sie sich in ihrer Not vor ihm niederwirft, weist er sie schroff ab: „Lass erst die Kinder satt werden...“ – und damit meint er die Kinder des Volkes Israel und gerade nicht die Tochter unserer namenlosen Frau – „...es ist nicht recht, dass man den Kindern das Brot wegnimmt um es den Hunden vorzuwerfen.“ Und mit den „Hunden“ meint Jesus eben die Frau und ihre Tochter. Er, der doch sonst ein Herz für Kinder, für Zöllner, Sünder, Huren und wen noch alles hat – oder bilde ich mir das ein? –, Jesus weist sie ab. Und was für eine Beleidigung aus seinem Mund! Ein solches Bildwort ist verletzender als jedes direkte Wort. „Hunde“, das meint Abschaum, das heißt: „Du bist nichts wert!“, „Hau ab!“ Und so ein Bildwort ist gefährlich: Der Verstand wird durch eine scheinbare Logik geschmeichelt, ja in diese Logik geradezu hinein¬gezwungen. Wir kennen das nur allzu gut aus den Reden der Populisten aller Zeiten und leider auch wieder unserer Zeit. Widerworte scheinen zwecklos: 'Ne, ist doch klar, dass man erst die Kinder füttert und dann die Hunde. Ordnung muss schließlich sein. Das würde doch jeder so machen. Das muss man doch mal sagen können ohne gleich als Unmensch, Rassist, Nazi oder was weiß ich beschimpft zu werden. Erst die Menschen, dann die dahergelaufenen Tiere!' – Wer will dem schon widersprechen? Als Martin Luther über diesen Text predigte, soll er gesagt haben: „Wenn Jesus solche Worte zu mir gesagt hätte, ich wäre stracks davongelaufen und hätte gedacht. Es ist umsonst, was du tust, da ist nichts zu erlangen.“ Aber unsere namenlose Frau, Ausländerin, Heidin, aussätzig wie ein Hund mit ihrer Tochter, die von einem „unreinen Geist“ befallen ist, diese Frau also sagt (und ich kann nicht anders als ihrem Satz auch einen humorvollen Tonfall schmeichelnder Ironie zu hören): „Aber ja Herr, du hast schon ganz recht!“ – sie widerspricht der Beschimpfung ausdrücklich nicht, sondern bestätigt sie auch noch: „Recht hast Du, ein Hund, ja! Wie schön!“ – „(Aber ja Herr, du hast schon ganz recht,) die Hunde unter dem Tisch fressen ja ohnehin von dem, was die Kinder fallen lassen.“ BAMM! Dafür liebe ich die Bibel und ihre Geschichten! Sonst ist es ja Jesus, der mit seinen Worten Rätsel und Fallstricke auflöst, die eigentlich nicht aufzulösen sind. Zum Beispiel als er von dem Schriftgelehrten nach dem höchsten Gebot gefragt wird. Gottesliebe, Nächstenliebe, Selbstliebe. BAMM! Und hier nun wird er belehrt. Ganz zu Recht. Und bei dieser Frau, die von Jesus zurückgewiesen und missachtet wird, fängt es mit der Selbstliebe an: 'Ich bin es wert! Ich habe Anteil an deinen Gaben und Möglichkeiten! Ich bin genauso ein Kind Gottes wie die anderen, die du bevorzugst. Ich lasse mich nicht ausgrenzen, nicht kleinmachen zu einem Tier, da kannst Du reden, was Du willst. Ich breche nicht zusammen. Ich bin ein Mensch, ein Geschöpf Gottes. Von ihm geliebt so wie ich bin, ob Du das willst oder nicht. Ich habe Anteil an seiner Liebe. Deshalb ist es nur Recht, wenn ich auch Deine Liebe, deinen Respekt einfordere!'
'Mein Gott! Respekt!' Nicht mehr, nicht weniger! In aller Vielfalt und grenzenlos. Vielfalt verdient Respekt! Egal ob es um Glauben oder Herkunft geht wie in unserer Geschichte, oder um Hautfarbe oder um geschlechtliche und sexuelle Orientierung. Egal ob es um Identität geht, um Mann und Frau oder ganz einfach nur um Menschenwürde. Respekt! Das ist das Mindeste. Nicht mehr. Nicht weniger.
Manchmal allerdings muss man sich den Respekt erst erkämpfen und erstreiten. Verdient hat man ihn immer, aber manchmal muss man um diese Liebe, die Nächstenliebe und die Selbstliebe und um die Gewissheit selbst der Liebe Gottes kämpfen. Das wisst Ihr vielleicht noch viel besser als ich. Aber es lohnt sich! Wie bei der Frau aus unserer Geschichte mit ihrem Rückrat, ihrer Selbstliebe, ihrem trotz aller Beleidigungen uner¬schütterlichen Vertrauen. Und auch ihrem fein-ironischen Humor. ihrer Geduld und ihrer Beharrlichkeit.
Eine Predigt sollte schlussendlich immer ein klein wenig auch über den Bibeltext selbst hinausgehen. Deshalb darf ich mit einem Appell enden: Gebt Euch nicht zufrieden mit den Brosamen, den Krumen, den Resten, die die anderen Euch übriglassen! Das wäre viel zu wenig! Fordert alles! Streitet für mehr! Es wird sich lohnen! Die Syrophönizierin unserer Geschichte hat auch mehr bekommen als nur die Krümel: Schlussendlich hat Jesus ihre Tochter geheilt. Voll und ganz. Er hat sich belehren lassen in der Nächstenliebe dieser Frau. In ihrer Selbstliebe. Und ihrem grenzenlosen Vertrauen in Gott. Dieses eine Mal. Ist das nicht wunderbar?
Aber mit dieser Möglichkeit müssen wir immer rechnen im Leben: Dass wir streiten und kämpfen müssen. Dass wir – wenn andere es nicht tun – uns doch selbst lieben müssen und der Liebe Gottes ganz vertrauen können: Wir sind – so wie Gott uns geschaffen hat – sein wunderbares Ebenbild. Jeder einzelne von uns. Jede einzelne. In aller Vielfalt und grenzenlos. Das verdient Respekt. Mein Gott – Respekt auch wie schön Du uns geschaffen hast! Wir dürfen in Würde und voller Stolz und Freude durch unser Leben mit all seinen Hindernissen, Ab- und Umwegen, Widerständen und Anfeindungen gehen! Und wir dürfen feiern. Auch heute. Gleich beim Agapemahl teilen wir Brot und Trauben. Und wir dürfen uns dabei wie beim Abendmahl darin erinnern lassen, dass wir zur Gemeinschaft gerufen sind – über alle Grenzen auch der Konfessionen hinweg. Dass wir von Gott angenommen und geliebt sind – so wie wir sind. Und dass wir berufen sind – wir alle! – sein Heil zu erlangen. Nicht weniger als das! Mein Gott – Respekt!
Und Gottes Geist möge uns erfüllen und erleuchten, dass wir seine Liebe erfahren und annehmen und teilen.
Amen!